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„Es wird immer mehr von Würde gesprochen, je weniger sie da ist.“

Ein Gespräch mit Gerhard Polt, Ruedi Häusermann, und den Well Brüdern Karli, „Stofferl“ und Michael über das Sterben auf dem Dorf, Würde, Scheinheiligkeit und die Geschichte ihrer Zusammenarbeit. Aufgezeichnet von der Dramaturgin Viola Hasselberg.

Gerhard Polt: Manchmal ist es nicht schlecht, dass man das, was man erlebt, ein bissl relativiert. Nicht als absolut sieht.

Viola Hasselberg: Es ist sicher auch gut, wenn man weiß, was vorherige Generationen erlebt haben.

GP: Aber wir leben eine sehr ich-bezogene Gesellschaft, und diese Ichbezogenheit hat etwas damit zu tun, dass man gar nicht mehr relativiert. Synchron zu uns passiert der Krieg in der Ukraine, und ich bin auch durch eine Ruinenstadt gelaufen. Man sieht nur das Jetzt. Diese „Ich-igkeit“, die lernen wir heute.

Karli Well: Und „Ich“ möchte jetzt bitte anfangen!

Ruedi Häusermann: Immer dieser „Ich“, Karli!

VH: In „A scheene Leich“ geht es um Eure Hauptfigur Pius Brenner und seine Marktlücke, die „Pietas Ruhe GmbH“, ein komplexes Bestattungsunternehmen. Gleich in der ersten Szene, erzählst Du, Gerhard, von Deiner eindrücklichen Begegnung im benachbarten Leichenschauhaus, in das der Bub einfach hineinmarschiert. Ist das eine wahre Geschichte?

GP: Da muss ich so fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, und ich bin da reingegangen, weil ich gegenüber gewohnt hab. Das ist exakt so passiert. Ich bin in Altötting großgeworden. Altötting ist der katholischste Punkt in Europa, außer Tschenstochau.

Stofferl Well: Das Kino war zu, und deswegen bist Du ins Leichenschauhaus?!

GP: Ins Kino bin ich da noch nicht `gangen.

SW: Das Leichenschauhaus war das Kino, richtig großes, reelles Kino!

GP: Ich bin in einer Metzgerei großgeworden, und auf der anderen Straßenseite war der Friedhof. Ständig war da Beerdigung, ständig! Das Leichenschauhaus war immer offen.

SW: Wenn einer gstorben is, ist der ausgestellt worden. Abschied nehmen!

KW: Bei uns war das eine Mutprobe, da reinzugehen.

GP: Und dann gabs auch noch in manchen Friedhöfen den „Karner“, weißt Du, was das ist?

VH: Nein, das Wort kenne ich nicht.

GP: Ein Gebeinhaus. Wo die Totenköpfe und die Knochen gestapelt sind.

SW: Die aufgelassenen Gräber, die dann…

VH: …die nächste Stufe der „Verwertung“ erfahren?

GP: Und da stehst Du dann vor drei, vier, nein fünfhundert Schädeln.

VH: Damals ist also diese Fleischfliege in den Mund des verstorbenen Kinderschrecks geflogen, was ging Dir durch den Kopf? Was ist Euer Verhältnis zum Tod, vom Dorf kommend?

GP: Der Moment damals, das ist etwas, das Dich packt, und Du kannst es nicht total einordnen. Du versucht es einzuordnen, Du siehst die Menschen lebendig, und auf einmal liegt da so ein Körper, und - und - und -

KW: Und auf einmal ist er nicht mehr da. Ich hab das so empfunden: Es ist wie ein Kommen und Gehen, wie die Jahreszeiten. Es gab einen festen, rituellen Ablauf, das war das Normalste auf der Welt, dass jemand gestorben ist auf dem Dorf. Das war drei Tage tragisch, und dann ging es weiter.

GP: Eine schöne Leiche ist was anderes als eine „scheene Leich“, das ist das Missverständnis. „A scheene Leich“ ist was Lustiges, vielleicht gar ein Besäufnis, das muss Umschlagen, wieder ins Leben. Die Trauer muss umschlagen in die Tatsache, dass wir weiterleben.

Michael Well: Auf dem Dorf war der Rahmen einer Beerdigung überschaubar, da war das eine Begegnung nicht nur der Verwandten, sondern des ganzen Dorfes. Wie aufwendig die Beerdigung war, hing von der sozialen Stufe der Verstorbenen ab, das war oft auch eine Konkurrenz. Anschließend war man eingeladen zum Leichenschmaus, und da überwog dann die Freude: Wir haben`s noch mal gepackt! Wenn alle da sind, das fängt Dich in Deiner Trauer auf, das ist eine Sache der Gemeinschaft.

SW: Die erste Frage war: Waren`s viele Leut? Wie viel waren da? Und was hat`s zum Essen geben?

GP: In Altötting gab`s eine Frau, eine Dame, von der hat`s geheißen: Sie macht das Klageweib. Die macht das nebenberuflich. Geld hat die gar nicht unbedingt gekriegt, die bekam Essen, die war eingeladen, und dann hat die - (er schluchzt). Das war ein Ornament.

KW: Von jedem Haus musste unbedingt jemand geschickt werden – zur Anteilnahme.

RH: Wenn ich Euch zuhöre, fällt mir auf, dass ich das alles nicht kenne, ich habe das nicht erlebt. Ihr erzählt Eure Geschichten und man lächelt ein wenig über das Dörfliche. Aber eigentlich ist das wie eine Lehre, was Leben und Sterben bedeutet. Bei uns kam das überhaupt nicht vor. Du hast keine Ahnung, Du bist vollkommen unvorbereitet, Du weißt nichts über das Sterben. Ich bin in einer reformierten Gemeinde (in der Schweiz) aufgewachsen, die wäre auch überschaubar gewesen. Ganz früher gab es noch den Leichenwagen, aber jetzt ist alles still und verschwunden.

VH: Es ist das Verschwinden einer ganzen Kultur?

GP: Ich erzähle irgendwo doch einmal im Stück, dass ich am meisten lachen muss, wenn die mir einen Sarg verpassen von der Firma aus und da drauf schreiben: „In ewiger Erinnerung!“ Die kennen mich doch gar nicht in der obersten Etage, das ist die kürzeste Erinnerung, die man sich vorstellen kann. Diese Scheinheiligkeit! Das ist der Unterschied zum Dorf. Mehr kann man gar nicht lügen.

KW: Da liest dann der Wurm „In ewiger Erinnerung“. Und der Wurm weiß dann Bescheid.

MW: Mein Großvater, der war wirklich vorbereitet. Der hat ein „eisernes Kreuz“ gehabt aus dem ersten Weltkrieg, der war im Lazarett, der wusste genau, wer kommt zu seiner Beerdigung. Und um diese Lücke auszufüllen, gibt es jetzt „Ritualdesigner“. Ich habe neulich jemand reden gehört, aber das fühlte sich irgendwie nicht echt an, wie die geredet hat.

SW: Gar nicht so schlecht, wie die das gemacht hat, aber die kannte den Verstorbenen gar nicht, und die Musik kam vom Band, und das alles hat ein Schweinegeld gekostet.

MW: Wir haben ja so eine Art Whistleblowerin vom Bestattungsinstitut, die hat uns genau informiert.

VH: Also Euer Spezialwissen in diesem Stück beruht auf Tatsachen?

MW: Ja! Ein großes Institut, ein Global Player, die Frau hat uns den Katalog mitgegeben, was was kostet, und jeder Handgriff kostet. Sie hat uns erzählt, wie sie die Füllung unterm Stoff mit Zeitungspapier gemacht haben oder wie sie g´schmissen wurde, weil sie arme Leute beraten hatte: „Dann nehmt`s halt den Kiefernsarg, das allerbilligste Modell!“ Oder der „Hartz-4-Sarg“, den gibt`s wirklich. Wenn die Kommune aufkommen muss, die nehmen immer das billigste.

KW: Wie ich das erste Mal in München bei einer Beerdigung war, da war ich echt entsetzt.

GP: Da musst Du ganz schnell spielen, weil schon die nächsten warten.

VH: Sonst mischt sich die Musik ungut?

GP: Es wird immer mehr von Würde gesprochen, je weniger sie da ist.

VH: Davon erzählt ihr ja auch in Eurem Stück, das Lachen bleibt einem schon manchmal im Halse stecken.

SW: Über Sachen, die man nicht erklären kann, lacht man am besten, das ist ein Notwehrlachen.

VH: Ihr zieht die Verbindung der verkauften Würde in Eurem Stück vom Seniorenheim direkt zum Bestattungsinstitut. Die sogenannte „Dreipfundwindel“, die länger hält, gibt`s die auch?

KW: Aber natürlich!

MW: Diejenigen, die den Skandal über das Pflegeheim in Schliersee (Wohnort von G.P.) aufgedeckt haben, das sind zwei Frauen, die jahrelang recherchiert haben. Wenn ich mit denen telefoniere, die sind so geladen! Die Kommunen versagen - in einem reichen Land, obwohl das eigentlich Daseinsvorsorge ist. Die Altenheime gehören einfach dazu, genauso wie die Krankenhäuser, die Wertschätzung ist nicht da. Als wir klein waren, in den Sechzigern, haben wir unzählige Nachmittage in Altenheimen gespielt. Damals haben wir das kennengelernt, diesen Geruch…

KW: …oder wenn einer während der Vorführung gestorben ist, und die anderen haben das gar nicht mitgekriegt.

VH: Es war nicht alles besser früher.

RH: Ich hab mal gespielt in einem Altersheim in Lenzburg (Ruedis Wohnort in der Schweiz), hab da mitgesungen, um Weihnachten herum, und dann war das Singen fertig und die Leute sind gegangen, und jemand im Rollstuhl ist sitzengeblieben! Jemand saß so da, - und der ist gestorben, während der Vorführung, ein wahnsinnig schöner Tod. Dieses Bild, dieses Filmbild, -

GP: Dazu ein Kommentar: Im Krankenhaus drin hat mal einer gsagt, man soll doch mal bitte den „Bayern 3“ ausmachen, da wär einer schon am „ummi segeln“, da muss er dabei nicht den Verkehrsfunk haben! „Mach ihm das doch mal a bisserl leiser“.

MW: „Ummi Segeln“ ist das doch ein guter Begriff.

VH: Macht Euch das alles auch eher wütend oder wollt Ihr eher zum Lachen reizen mit dem Stück?

MW: Beides vielleicht, oder?

GP: Das eine bedingt das andere.

VH: Einer schiebt die Verantwortung auf den nächsten, der böse Pius Brenner ist nicht böse, sondern die Politik ist eben böse.

GP: Das war Absicht, das ich einmal im Stück den Verteidiger mache! Diese Perspektive muss man sehen – der Pius Brenner hat eine geniale Marktlücke entdeckt, aber wer ist an dieser Marktlücke schuld? Alle klagen ihn an, aber sie sind mitschuldig, dass er eben seine Geschäfte macht, dafür geben sie ihm die Gelegenheit! Sie versagen! Jeder weiß doch, dass ich mir mit 5000 Euro Rente ein gutes Altersheim leisten kann. Aber das haben die wenigsten.

RH: Das ist für uns die Herausforderung. Das Thema wiegt schwer, wir wollen eine Geschichte erzählen, nicht nur eine Nummernrevue. Wir wollen den Skandal, den Ernst nicht verfehlen, aber wir haben „Belüfter“.

SW: Es ist ein wahnsinniges Dilemma.

RH: Es gibt keinen Schluss.

GP: Die Gesellschaft wirft Ballast ab, und der Staat macht sich zum Helfershelfer.

VH: Am Ende dieses Stückes bin ich auf mich selbst zurückgeworfen.

ST: Man muss seine Kinder halt so gut erziehen, dass sie Dich im Alter nicht hängenlassen.

KW: Du kriegst immer das zurück, was du gibt.

GP: Das Problem ist ja nicht das einzelne Altersheim. Jeder kann aufführen, warum das so ist. Das ist tief in der Kultur so angelegt, - die Gesellschaft erlaubt sich heute nicht mal eine Woche Trauer. Das sind die Zeichen einer bestimmten Zivilisation.

RH: Wir haben das ja so gewollt, „Delegation als Fortschritt“, den Tod wegdelegieren, aber dann ist nichts mehr übrig. Die Abschaffung von Ritualen ist schnell gemacht. Es geht ja nicht nur um den, der stirbt. Wie denken wir über unser ganzes Leben? Wir bleiben Menschen, die sterben.

VH: Habt Ihr Euch für Eure eigene Beerdigung eventuell schon etwas überlegt?

MW: Also, die „Toten Hosen“, die haben so ein Grab bestellt für alle Toten Hosen.

SW: Also, unser Familiengrab ist größer - soviel bringen die nicht zusammen!

VH: In Eurem Stück gibt es ja eine perfide Geschäftsverbindung zwischen einem Altenheim und einem Bestattungsinstitut.

GP: Die ist authentisch. Dieses skandalöse Heim in meinem Wohnort Schliersee war direkt verbunden mit Beerdigungen.

VH: Die Realität übertrifft alle Fiktionen?

MW: Wir haben mit Klaus Fussek, einen profunden Kenner der ganzen Szene gesprochen – das war fast zu viel.

VH: Wie kam es zu eurem gemeinsamen Vorhaben, zu der Idee für diesen Stoff?

MW: Bei einem ersten Brainstorming hatten wir Gedanken über einen 80zigsten Geburtstag, über die ganzen Vereine, die dann antreten. Der Karli hat gesagt, das kannst Du genauso mit einer Beerdigung erzählen, und so kam die Idee.

KW: Wir sind ja in dem Alter, wo man sich…

GP: Der Skandal in Schliersee war schon ausschlaggebend.

MW: Den Ruedi kannten wir ja schon aus den 80zigern im „TamS“.

RH: Ich bin damals eingesprungen im „TamS“ für „Pic“, irgendein Schweizer sollte es halt sein. Ich habe dort später auch einige Produktionen gemacht und mein Soloprogramm „Der Schritt ins Jenseits“ aufgeführt. Mit dem haben die Polts mich dann eingeladen nach Schliersee, zu den Bauerntheatertagen. Ich habe selten so super verdient, ein schweres Geldsäckl, sie haben mir einfach die ganzen Einnahmen in die Hand gedrückt!

Und viel, viel später haben wir dann zusammen die ersten Schritte für das gemeinsame Projekt ins Auge gefasst. Man muss sagen: Als wir diese Arbeit begonnen haben, waren wir noch weit weg vom heutigen Stand. Es hat viele ersprießliche Wechselbäder gegeben.

GP: Dann kam`s zum „Mailänder Konvent“ -

RH: - im Jugendhotel! Da haben Gerhard und ich…

MW: …und danach das „Konzil am Bodensee“, am Bahnhof, mit Frau Mundel, die aus dem Taxi stieg.

SW: Wir wollten nicht das klassische Nummernprogramm, sondern mehr in Richtung Theater, da brauchen wir…

RH: …einen Schweizer Schafseckel

SW: …halt jemanden, der weiß, wie die Zahnräder der Uhr schön ineinandergreifen!

VH: Niemand kann solche Partituren wie entwickeln wie Ruedi. Verbindet euch ein gemeinsamer Humor oder lacht ihr über Verschiedenes?

RH: Ich find mich lustig, wahnsinnig lustig. (lacht)

GP: Er findet uns lustiger wie wir.

RH: Wie lernt man sich kennen, was sind das für kleine Nebensätze, an denen man merkt: Wir haben die gleiche Ebene?! Die Musik ist natürlich eine Verbindung, ein Musiker zu sein, um den Beitrag zu wissen, den die Musik leisten kann, wenn so ein schweres Thema kommt. Dieses Bewusstsein ist toll. Ich genieße die Proben!

MW: Mir gefällt die vollkommen andere Form, die Arbeit mit dem Laienchor, mit den Schauspielern.

KW: Die Zusammenarbeit mit dem Haus, das wollten wir nochmal haben.

SW: Wir sind ja dann 40 Jahre an dem Haus.

GP: Und ich bin noch a bisserl länger dort…

VH: Wie hat sich der Text entwickelt?

GP: Wir haben uns gegenseitig stimuliert.

MW: Ruedi hat immer mitgeschnitten, alles verschriftlicht.

GP: Und schließlich habe ich die Texte geschrieben anhand meiner persönlichen Erfahrung. Aber die Idee haben wir gemeinsam entwickelt. Das ist großes Teamwork.

VH: Ruedi, Du arbeitest ja sonst ganz anders, mit der Verdichtung eines literarischen Kosmos`, oder mit einer ganz eigenen Partitur aus Musik und poetischen Ereignissen. Wie hast Du Deine Methode mit Polt und den Well Brüdern zusammengebracht?

RH: Gute Frage! Das ist hier das erste und einzige Mal, dass ich nicht meine eigene Musik mitbringe oder wir umkreisen die Welt von Daniil Charms oder Robert Walser. Ich habe für die „A scheene Leich“ mitbeigetragen, Gefäße zu schaffen, leere Gefäße, die durch andere Leute gefüllt werden. Aber weil ich diese Welt liebe, ist das ein großes Geschenk.