MK:

Ich erinnere mich an die Frau, die meine Mutter war

Digitales Programmheft zu "Die Freiheit einer Frau"

Der Shooting-Star der französischen Literatur, Édouard Louis, hat nicht weniger als ein Genre neu erfunden: das autofiktionale Schreiben. Er erzählt von Klassismus, Homophobie, Chauvinismus und Xenophobie. Nun begibt er sich auf die Spuren der Biographie seiner Mutter Monique Bellegueule und schildert ihre berührende Metamorphose: wie sie sich von ihrer toxischen Familie in der Provinz befreit, wie sie in Paris ein neues Leben, eine neue Liebe findet, wie sie schließlich mit Catherine Deneuve eine Zigarette raucht.

Gabriel Proedl hat Édouard Louis über Monate begleitet.

Schon mit seinem Erstlingsroman „Das Ende von Eddy“ wurde der 1992 in Hallencourt in der Picardie geborene Édouard Louis 2014 weltweit bekannt. Er schildert seine Jugend und seine eigene Verwandlung von dem permanent in Schule und Familie homophober Diskriminierung ausgesetzten Jugendlichen Eddy Bellegueule in den offen queeren Studenten Édouard Louis.

Nachdem er zunächst in Amiens ein Gymnasium besucht, wechselt er schließlich an die Universität nach Paris und beginnt ein Studium der Soziologie an einer der französischen Elite-Hochschulen. Sein prägender akademischer Lehrer wird Didier Eribon, mit dem Louis bis heute eine enge Freundschaft verbindet. Eribon wurde im deutschsprachigen Raum hauptsächlich durch sein Buch „Rückkehr nach Reims“ bekannt, in dem er vor der Folie seiner eigenen Familiengeschichte danach fragt, warum in der französischen Arbeiterklasse so zunehmend massiv rechtsnational gewählt wird.

Didier Eribon, Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie

Die Verbindung von Klassenfrage und europaweitem Erstarken der Neuen Rechten ist ein Gegenstand, der auch in den Texten von Édouard Louis eine wesentliche Rolle spielt. Durch das Studium angeregt, beginnt für Louis auch eine intensive Auseinandersetzung mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der sich mit den Mechanismen der Disktinktion auseinandersetzte und beschrieb, welche Mittel Menschen bewusst oder unbewusst wählen, um ihren eigenen sozialen Status zu markieren und sich von anderen abzugrenzen. Dies können materielle Statussymbole sein, aber auch immaterielle Codes wie eine bestimmte sprachliche oder körperliche Ausdrucksweise. In „Die Freiheit einer Frau“ wird sich Louis selbst als „Klassenflüchtling aus Rache“ bezeichnen, der sich durch Sprache und Habitus gewaltvoll von seiner Familie abgrenzt. Immer wieder beschreibt Louis in seinen Werken jene Gewaltstrukturen, die durch Klassismus, Menschenfeindlichkeit und Homophobie wirksam werden – und analysiert ihre intersektionalen Verknüpfungen.

Tödliche Männlichkeit & unsichtbare Gewalt
Über Édouard Louis‘ Literatur, die vergessenen Menschen, die Arbeiterklasse, maskuline Werte, seine Beschäftigung mit Bourdieu.

Über „Im Herzen der Gewalt“

In diesem Sinne nannte Édouard Louis seinen zweiten Roman „Histoire de la violence“ (deutsch: „Im Herzen der Gewalt“). Er verarbeitet darin die Erfahrung einer Vergewaltigung, die er durch einen Algerier kurz nach seinem Umzug nach Paris erleben musste. Er analysiert, wie sein Umfeld und er selbst immer wieder versuchen, die Geschichte aus der jeweils eigenen politischen Position umzudeuten, sich anzueignen: im Sinne eines rassistischen Blicks der Polizei, der homophoben Perspektive von Familie und Ärzten, aber auch des durch die Gewalterfahrung kurzeitig paranoid und xenophob gewordenen Blicks von Édouard Louis selbst.

In seinem dritten Roman „Wer hat meinen Vater umgebracht“, dachte er über die konkreten Auswirkungen der Sozialkürzungen der französischen Politik auf den Körper seines Vaters nach. Durch einen Unfall in der Fabrik, wo Louis’ Vater arbeitete, war jener arbeitsunfähig geworden. Nach Jahren wurde er dennoch gezwungen, eine neue Arbeit anzunehmen, und verschiedene staatliche Zuschüsse zu Medikamenten und medizinischen Leistungen wurden gekürzt, so dass sich die Gesundheitsversorgung seines Vaters massiv verschlechterte. Louis spitzt dieses Nachdenken über Klassismus bis zur These zu, dass Politiker wie Nicolas Sarkozy, Jacques Chirac oder Emmanuel Macron durch ihre Politik seinen Vater töten. Die Gewalt des Klassensystems wird statistisch offensichtlich: Angehörige der französischen Arbeiter:innen-Klasse sterben sieben Jahre früher als Menschen anderer Klassen. Auch für Deutschland ist statistisch belegt, dass Arbeiter:innen im Schnitt eine fünf Jahre geringere Lebenserwartung haben.

„Ich wurde zum Klassenflüchtling aus Rache.“

Édouard Louis

How politics becomes a matter of life and death…

Im Zentrum des Romans „Die Freiheit einer Frau“ steht die Frage nach Möglichkeit und Grenzen von sozialem Aufstieg. Édouard Louis findet eines Tages ein Foto seiner Mutter aus der Zeit, bevor sie Mutter wurde – und wundert sich über den freien und glücklichen Ausdruck auf ihrem Gesicht, den er nicht kannte. Von diesem Erlebnis ausgehend, startet er eine assoziative, lustvoll durch die Zeiten springende literarische Reise durch das Leben von Monique Bellegueule. Mit ihren ersten beiden Männern war sie zweimal in toxische, von Gewalt und Alkoholismus geprägte Beziehungen geraten, bekam insgesamt fünf Kinder, von denen Édouard Louis der drittälteste ist. Zwei Trennungen folgten, neue Lebensabschnitte und schließlich der Schritt nach Paris, wieder eine neue Beziehung und die Verwandlung in eine „richtige Pariserin“: Das Leben von Monique Bellegueule ist gekennzeichnet durch konstante Metamorphosen.

Édouard Louis’ jüngster Roman

Regisseurin Felicitas Brucker geht in ihrer Adaption von „Die Freiheit einer Frau“ auf den Aspekt der konstanten Verwandlung ein und entwickelt mit dem Ensemble eine Spielweise jenseits von Figurenpsychologie. Das dreiköpfige Ensemble nähert sich als Erzählkollektiv gemeinsam der Biografie von Monique Bellegueule, skizziert die Figuren und Situationen des Romans leichtfüßig an. Permanent springen die Schauspieler:innen dabei in die unterschiedlichen Rollen des Romans und wechseln sich ab ohne eine klare Zuweisung. Sie untersuchen, wie sich Familienmitglieder ineinander spiegeln, wie Umfeld und Erfahrungen sich in Menschen einschreiben.

Thematisch hallt die Beschäftigung mit dem Ringen um Freiheit und Emanzipation in Ibsens „Nora“ in der Inszenierung nach – beide Arbeiten kommen als Double Feature zur Premiere und werden immer wieder gemeinsam gezeigt. Sie kreisen beide um die Frage nach dem Fortwirken des Patriarchats, danach, wie frei wir in der Gestaltung unserer Biografien sind.

Nächster Termin 4.5. UA Berliner Theatertreffen 2023 Englische Übertitel
Nora
Ein Thriller  • Von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild...
Nächster Termin 27.5. Englische Übertitel
Die Freiheit einer Frau
Nach dem Roman von Édouard Louis