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Digitales Programmheft "Hungry Ghosts"

HUNGRY GHOSTS
Eine Farce über verlorene Erinnerungen und komplizierte Biografien
Von Anna Smolar und Ensemble

Die Geister, die quengeln, sind Protagonisten der Vergangenheit. Manchmal erscheinen sie in Verkleidungen, als Symptome, die wir nicht erkennen. Manchmal wollen wir sie auch gar nicht erkennen, die Vergangenheit soll ruhen. Unsere Großmütter und Großväter, Tanten und Onkel, Mütter und Väter bewohnen unsere Körper. Was sie erlebt haben, schreibt sich in uns ein, verändert sogar unser genetisches Setting. Genauso beweisen es uns neuere Erkenntnisse aus der Epigenetik, Experimente, durchgeführt an Menschen und Mäusen, Experimente, die in verschiedenen Generationen durchgeführt wurden. Eine seelische Wunde kann sich bis in die vierte Generation vererben. Kann – muss aber nicht. Ob eine Wunde verheilt, oder daraus ein Trauma wird, ein nicht integrierbarer, sich fortschreibender körperlich-seelischer Schockzustand, hängt von vielen Faktoren ab. Hungrige Geister sind die Schatten unserer verlorenen oder zersplitterten Erinnerungen, eingefrorene Teile unserer Selbst. Und der Frost wird meistens genährt durch ein großes Schweigen, in den Familien, in ganzen Gesellschaften. Man kann sich diesen Geistern zuwenden, es gibt die Möglichkeit, mit ihnen Frieden zu schließen.

Anna Smolar ist eine Regisseurin, die mit ihren Ensembles auf eine abenteuerliche Reise geht in der Erkundung eines für sie wichtigen Themas. Die Stücke werden im Probenprozess, basierend auf Improvisationen gemeinsam geschrieben. Es sind Montagen, die dokumentarische, fiktionale, musikalische und choreografische Anteile miteinander verweben. Anna Smolar beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern unsere Körper uns wichtige Botschaften vermitteln, welche „Kriege“ in ihnen ausgetragen werden, wie sie zur Bühne für wichtige gesellschaftliche Aufgaben und Veränderungen werden. Und sie hat als Künstlerin eine Leidenschaft für Komik und Techniken, die uns zum Lachen bringen.

In diesem Theaterabend „Hungry Ghosts“ benutzt Smolar eine Farce als Türöffner, um sich tieferen Schichten unserer seelischen Verwundungen zu nähern. Wir beobachten eine Theatergruppe, die im Endprobenstress verzweifelt versucht, das Funktionieren der Komödie zu retten. Die Schauspielerin, die ihr Talent verloren zu haben scheint, bringt alle aus dem Konzept. Ihre Schwäche, die sich durch Konzentrationsmangel, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen ausdrückt, ist absolut fehl am Platz auf der Probe. Die Solidarität, ihr zu helfen, ist daher begrenzt oder bestenfalls getragen von Hintergedanken. Sogar ihre eigene Mutter, ebenfalls Schauspielerin, fällt ihr charmant in den Rücken. Kann man sie ersetzen? Sollen die zwei Alphatiere des Ensembles einfach alle Rollen übernehmen? Was steht für wen auf dem Spiel, wenn man hier versagt? Allmählich entfaltet sich eine Geschichte, dass die körperlichen Symptome der Schauspielerin in Verbindung stehen, mit einem Erlebnis in der Vergangenheit, das die Beziehung zwischen Mutter und Tochter schwer belastet. Es zeigt sich: Verlorene Personen der Familiengeschichte sind Teil des Systems, oft entwickelt sich gar eine unbewusste Loyalität mit ihnen.

Und jetzt: Durchhalten und funktionieren? Oder endlich den Geistern die Tür öffnen? Was tun wir, wenn wir keine Worte finden? Welche individuellen Erfahrungen mit seelischen Wunden lassen sich auf eine kollektive Ebene übertragen? Wie finden wir Erleichterung und Resonanz, um wieder in Verbindung zu treten? Mit der uns umgebenden, nicht wirklich friedlichen Welt, miteinander und mit uns selbst? „Hungry Ghosts“ bringt die Geister zum tanzen und lässt zwischen wissenschaftlichen Fakten und einer Geschichte, die verschiedene Schichten unserer komplizierten Biografien modelliert, Raum für jeweils eigene Bezüge.

Viola Hasselberg

Die polnisch-französische Regisseurin Anna Smolar über ihre Leidenschaft für Zellen, Louis de Funès und ihre Arbeit an „Hungry Ghosts“, ihrem Stück über vererbte Wunden und die Macht des Schweigens. Das Gespräch führte die Dramaturgin Viola Hasselberg.

Die Traumatherapeutin Katharina Drexler erklärt in ihrem Buch „Ererbte Wunden erkennen” sehr anschaulich, wie Wunden vererbt werden können und erklärt die Verbindung zwischen epigenetischen Prozessen und Traumata.

Es heißt, EMDR kann die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsreaktion verbessern. In einer Studie mit Mäusen konnte nun der gleiche Effekt gezeigt werden, der von Praktikern seit etwa 20 Jahren zu EMDR am Menschen behauptet wird. Die Mäuse wurden dabei in eine ähnliche Verfassung versetzt, welche auch beim Menschen bei einer posttraumatischen Belastungsstörung eintreten kann. Weiter wurde erforscht, welche Gehirnstrukturen für diesen Prozess verantwortlich sein könnten. Das Tiermodell ist dementsprechend hilfreich, weil diese sich Untersuchungen am Menschen aus ethischen Gründen verbieten oder schlicht nicht möglich sind.

Mira Marcinów schreibt preisgekrönte Erzählungen wie „Mutterlos“ oder die „Studie des polnischen Wahnsinns“ und ist gleichzeitig Psychotherapeutin. Im Gespräch erläutert sie, wie sie an ihrem Text für „Hungry Ghosts“ gearbeitet hat.

„Ich bin weder nach der Mutter noch nach dem Vater geraten. Ich hatte meinen eigenen Platz. Im zweiten Stock. Über der Kommode. Im vergoldeten Rahmen…“

Lesen Sie hier den Text, den Mira Marcinów für „Hungry Ghosts” geschrieben hat.

Thomas Hübl, moderner Mystiker, Mediziner und Experte für Traumaintegration, beschreibt in seinem Artikel den Verarbeitungsprozess von kollektiven traumatischen Erfahrungen. Statt der Verdrängung plädiert Hübl für eine bewusste Auseinandersetzung, um selbst die gegenwärtigen Einflüsse von Traumata von früheren Generationen aufzulösen.

Die eindrückliche Geschichte von Johanna P. erzählt von einer tragischen Familiengeschichte und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart. Eine Erzählung von Krieg, Verlust und Vorfahren, über Traumata, die in den nächsten Generationen wiedergefunden werden: Transgenerationale Traumata.

 

Verfügbar als Podcast und Text