MK:

Wir wuchsen auf in dieser Geschichte

Digitales Programmheft zu "Nora"

Nora hat es geschafft. Zumindest glaubt sie sich kurz vor dem Ziel. Nur noch eine letzte Rate des Darlehens, das sie unter einem Vorwand ohne das Wissen ihres Mannes Torvald aufgenommen hatte, um diesem eine lebenswichtige Auszeit zu finanzieren, muss sie bezahlen. Nora hat ihrem Ehemann das Leben gerettet – doch wie wird er reagieren, wenn sie selbst in Bedrängnis gerät? Kurz vor dem Ziel, 72 Stunden vor Weihnachten, kommen alle Annahmen über ihre Beziehung auf den Prüfstand. Bald steht sie vor einschneidenden Lebensentscheidungen. Noras Bild der eigenen, gleichberechtigten Beziehung bricht zusammen. Radikal progressiv für eine Frau des späten 19. Jahrhunderts hat sie den Mut, aus ihrer patriarchalen Familie auszubrechen, auf bürgerliche Privilegien zu verzichten und mit völlig unbekanntem Ausgang ein neues Leben zu beginnen.

Henrik Ibsens „Nora“ ist eines der wenigen klassischen Werke, von denen es aus der Feder der Autor:in selbst mehrere unterschiedliche Schlüsse gibt. Ursprünglich plante Ibsen eine Variante, in der Nora in den Suizid geht, entschloss sich dann aber für den bekannten Originalschluss: Nora bricht mit der Familie und lässt Mann und Kinder zurück, um in eine offene Zukunft aufzubrechen. In seiner Entstehungszeit war Ibsens Stück eine ungeheure Provokation. Ursprünglich 1879 geschrieben und in Kopenhagen uraufgeführt, wurde der Schluss von der Zensur nicht akzeptiert. Ibsen fügte dem Stück ein neues Ende hinzu, in dem Torvald seine Frau zwingt, noch einmal den Kindern in die Augen zu blicken, woraufhin Nora sich doch zum Bleiben bei der Familie entschließt. Nach der deutschsprachigen Erstaufführung in Hamburg kam 1880 der originale Schluss erstmals in München zur Aufführung.

“Man bittet, nicht über Nora zu sprechen.”

Nora oder Ein Puppenheim, uraufgeführt am 21. Dezember 1879 am Königlichen Theater in Kopenhagen, versetzte das Publikum in Begeisterung und wurde gleichzeitig zum Skandal. Dies ging dann so weit, dass auf Einladungen zu Gesellschaften auf einem Schild stand, nicht über das Stück zu sprechen.

Ibsens Theaterthriller regte seitdem immer wieder große Künstler*innen wie Elfriede Jelinek oder Rainer Werner Fassbinder zu einer Auseinandersetzung an. Auch in der theatralen Rezeptionsgeschichte der Gegenwart steht die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Varianten des Schlusses im Zentrum, und alle Schlüsse zwischen Bleiben, Gehen und Ausbruch kamen zur Aufführung.

Mit Sivan Ben Yishai, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic intervenieren nun drei wichtige Dramatikerinnen der Gegenwart in das Stück und befragen für Felicitas Bruckers Inszenierung die Ikone Nora für unsere Zeit neu. Im Rahmen dieses Projekts kommen drei zeitgenössische Texte zur Uraufführung und werden gleichzeitig zu einem vielstimmigen Erzählfluss verbunden.

Den Abend eröffnet ein Prolog der jüngst von „Theater heute“ als „Dramatikerin des Jahres“ ausgezeichneten Sivan Ben Yishai, an den Münchner Kammerspielen bekannt durch die zum Theatertreffen eingeladene Uraufführung „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“. Ben Yishai richtet den Blick auf die Figuren, die vermeintlich am Rand der Geschichte stehen. Sie erzählt aus der Perspektive von Noras Jugendfreundin Kristine Linde, lässt das Kindermädchen Annemarie zu Wort kommen, gibt dem Hausmädchen Helene ebenso eine Stimme, wie dem bei Ibsen namenlosen Boten. Sie wirft Fragen von Klasse und Hierarchien auf und weitet den Blick für Perspektiven jenseits des bürgerlichen Kosmos.

Die Nationaldichterin spricht
Interview mit Sivan Ben Yishai

Die Schriftstellerin und Regisseurin Ivna Žic war 2011 eine der Preisträgerinnen des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik und machte zuletzt mit ihrem für den Schweizer Buchpreis nominierten Erstlingsroman „Die Nachkommende“ Furore. Sie war Hausautorin am Theater Luzern und schrieb mehrere Auftragsstücke für das Schauspielhaus Wien. Als Regisseurin arbeitet sie unter anderem in Zürich, Wien und Bremen. In ihrem Text „Noras Kinder“ lässt sie die nächste Generation aus der Zukunft zu Wort kommen und auf die eigene Familie zurückblicken.

Ich frage dich nicht, wer du bist!
Ivna Žic im Gespräch

Gerhild Steinbuch begleitete als Autorin kontinuierlich den Probenprozess und interveniert zum einen in die berühmte Szene, in der Nora ihren Tanzauftritt auf dem Kostümball probt. Später lässt sie Linde und Krogstad einen verstörend brutalen Blick auf das Fest werfen, auf dem Nora und Torvald noch kurz vor dem Showdown des Stücks tanzen. Im Austausch mit dem Produktionsteam entwickelte Steinbuch zudem eine heutige Fassung der letzten Szene und verzahnt Ibsens Sprache mit ihrer eigenen, gegenwärtigen.

Alternative Fiction
Eine Lecture von Gerhild Steinbuch  

Regisseurin Felicitas Brucker erfindet für diesen multiperspektivischen Theaterthriller gleichermaßen vielfältige theatrale Stilistiken – zwischen einem sehr puren, ganz auf die Sprache von Sivan Ben Yishai konzentrierten Beginn über eine sehr körperliche Spielweise auf dem von Viva Schudt entworfenen umgestürzten Haus, das sich, durch die suggestive Videokunst von Florian Seufert bespielt, in seiner Anmutung kontinuierlich verwandelt.

Die Angst vor dem sozialen Abstieg und der Kampf um die eigene Position im gesellschaftlichen Ranking, der Druck Normen zu entsprechen, erfolgreiche Fassaden aufrecht zu erhalten – all diese (ziemlich) heutigen Empfindungen verbinden Ibsens Figuren.

Finanzskandale und Lebenslügen
Zur Biografie von Henrik Ibsen

Die Produktion „Nora“ kommt als Double Feature mit Felicitas Bruckers Inszenierung „Die Freiheit einer Frau“ zur Premiere und wird auch danach immer wieder im Doppelpack gezeigt. Beide Arbeiten sind eigenständige Inszenierungen, und doch bespiegeln sie sich gegenseitig. Beide kreisen um das Fortwirken patriarchaler Machtstrukturen in unserer Gegenwart.

Nächster Termin 27.5. Englische Übertitel
Die Freiheit einer Frau
Nach dem Roman von Édouard Louis
Englische Übertitel
Nora & Die Freiheit einer Frau
Double Feature Nora Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, •...