Global Music Excellence #1: Proto-Manele
Öffne deine Ohren für rumänische Wundermusik.
Die Diskographie rumänischer Vinylschallplatten sollte eigentlich übersichtlich sein: Doch ist sie dürftig dokumentiert. Was sicher mit den schweren Umwälzungen einhergeht, die das Land mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes Anfang der 1990er Jahre erfahren hat. Doch sie hat es in sich! Bekennende Multikulturalist:innen (mit Plattenspieler) finden hier ihr Schlaraffenland.
Manele ist der alles bestimmende Musikstil. Wobei — eigentlich ist Manele kein fester Musikstil: Denn er kann vieles beinhalten: Pop, Rap, traditionelles Instrumentarium, traditionelle Rhythmik. Was jetzt Manele ist oder nicht, darüber entscheidet die Lebenseinstellung, die ein Song vermittelt. Vielleicht ist Manele am ehesten mit dem Lebensgefühl des Gangsta Rap vergleichbar: Materielle Güter, materielle Sexualisierung — Manele steht im Zwielicht und ist der Sound der marginalisierten Volksgruppe der Roma. Und wenn ich meinen Freund:innen in Rumänien glaube, dann hören fast alle Manele, kennen alle die Hits auswendig. Obwohl Manele – ob seines schmutzigen Image — weder im Radio noch im Fernsehen läuft. Alle hören Manele und keiner will’s gewesen sein. Viele der hier vorgestellten Platten fallen retrospekt unter den Begriff Proto-Manele, denn sie ebneten den Weg ins Jetzt. Für sieben Platten ist hier Platz, doch der halbe Planet scheint auf ihnen enthalten zu sein. Let’s did it:
Kadriye Nurmambet: Bahcelerde Kestane
Electrecord LP, 1980
Die staatliche Schallplattenfirma Electrecord war verpflichtet, allen Minderheiten eigene Produktionen zuzugestehen und gemeinsam mit dem eigenen Studioorchester einzuspielen. Das erzeugt musikalische Brückenschläge und produktive Fehlübersetzungen. Diese multikulturelle Konstellation führt zu einem einzigartigen Album der Sängerin Kadriye Nurmambet. Die „Nachtigall von Dobruja“ steht ohnehin in den rumänischen Geschichtsbüchern, weil sie Rumäniens erste Anwältin krimtatarischer Abstammung ist. Hier singt sie ausschließlich anatolisches Liedgut. Das wiederum erklingt in den Arrangements von Florin Economu in ungehörter, ja fast außerirdischer Weise.
Dona Dumitru Siminică: Inel, Inel De Aur
Electrecord LP, 1979
Den schnurrbärtigen Halbglatzen-Mann mit seiner androgynen Falsettstimme im Kopf zu verknüpfen, ist mir erst beim zweiten Hören gelungen. Beim ersten Hören wäre ich vor Faszination fast in Ohnmacht gefallen. Denn Dona Dumitru hat alles, was eine wirklich große Stimme
ausmacht: Sein Gesang ist schlicht unwiderstehlich und so universell erzählerisch, dass fehlende Sprachkenntnisse keine Hürde sind. Rumänische Freunde übersetzten mir die Texte, doch ich wusste längst, worum es geht. Das Berliner Label Asphalt Tango hat seine Arbeiten wiederveröffentlicht — ich kann sie euch allen nur ans Herz legen.
Capriel Dedeian – Carun, Carun (Primavara, Primavara)
Electrecord LP, 1991
Auch armenische Musik aus Rumänien findet sich im Katalog der staatlichen Plattenfirma. Capriel Dedeian huldigt seiner Wurzeln in leichtfüßig arrangierten Klassikern wie Sud E im Synthie-Pop-Gewand. Das allein wäre schon toll, doch ornamentiert er die Musik mit virtuosen Gitarrenläufen, die mehr an Jazz erinnern. Kein Wunder – denn er galt als rumänischer Meister des Jazz – mit einer beachtlichen Karriere. Er hat außerdem vier Fachbücher zum Thema Jazzgitarre verfasst. Leider ist Dedeian am 22. August 2022 verstorben.
Renato din Sălaj + Ion din Dorobanți – Nu E Înjoseală (N-am Cărți De Credit)
Future Nuggets 7inch Single
Eine Vinylsingle aus dem Jahr 2016 ziert Mihai Barabanceas ikonisches Porträt des Sängers Renato din Sălaj. Seine tragische Geschichte bleibt hier zwar unerzählt, aber sie ertönt in jedem Klang dieses grandiosen Hits. Ion und Renato haben sich im Gefängnis kennengelernt. Der Eine kommt aus der weißen rumänischen Mittelschicht und musizierte mit Insassen für ein Projekt, der Andere saß mit Anfang Zwanzig bereits seit mehreren Jahren ein, wie viele junge Roma. Seine Stimme kann zu den großen Stimmen Europas gezählt werden — sein Gesang geht direkt zurück zu den Wurzeln der Roma in Südasien, wo eine jahrhundertelange Reise begann, die bis heute von Vertreibung und Diskriminierung geprägt ist. Gemeinsam lassen die Musiker jede irdische Beschränkung hinter sich. Tretet ein in höhere musikalische Dimensionen!
Naarghita: Arabian Lyric Music
Electrecord LP, 1985
Ein multikultureller Traum auf Schallplatte! Maria Amarghioalei alias Naarghita hat sich in Rumänien einen Namen als leidenschaftliche Interpretin hindustanischen Liedguts gemacht und einige Platten mit Bollywood-Filmhits veröffentlicht. Bollywood-Filme waren im kommunistischen Rumänien durchaus populär und wurden als Gegenpol zur Hollywood-Kultur des Westens in die Kinos importiert. Auf Tourneen durch Ägypten, Kuwait und den Libanon traf Naarghita jedoch erneut Amors musikalischer Pfeil und sie begann, arabischen Pop zu interpretieren. Der klingt in Rumänien wie nirgends auf der Welt: Auf Arabian Lyric Music hören wir die grenzenlose Sängerin mit Songs aus dem Katalog der libanesischen Diva Fairouz im Bollywood-Disko-Gewand, arrangiert von Corneliu Meraru.
Formația Albatros: s/t
Eurostar LP, 1992
Das Plattencover suggeriert eine Kreuzung aus Schlagerpop und Kuschelrock. Wer mag vermuten, welch besondere Musik sich hier verbirgt? Kurz nach dem Zusammenbruch des Ceaucescu-Regimes formierte sich ein unübersichtlicher unabhängiger Tonträgermarkt, auf dem meist mit Musikkassetten gehandelt wurde. Zum Marktführer stieg die Firma Eurostar auf, die hauptsächlich Musiker:innen aus der Gesellschaftsgruppe der Roma vertrat. Die von Marian Lapadat konzipierte Band Albatros serviert uns hier geisterhaften Synthesizer-Pop mit Mittelmeerduft. Mein Freund DJ Basso beschrieb es mit dem Wort „Psycholambada“.
Formația Dan Armeanca: Muzică Țigănească (Cîntece Țigănești = Chilea Romane)
Eurostar LP, 1992
Für viele ist dies der Klassiker schlechthin im Eurostar-Katalog. Fest steht, dass der Einfluss dieser kreativen Explosion um den Sänger Dan Armeanca auch heute nicht wegzudenken ist. Seien es die flimmernden Keyboards oder die Dub-Effekte auf der Rhythmik — die Produktion verweist in die Zukunft wie in die Vergangenheit gleichermaßen. Vieles klingt, wie aktuelle elektronische Musik heute klingen will. Auf dem ganzen Balkan wurde Muzică Țigănească gelauscht, und das Album hat viele Musiker:innen zu Höchstform inspiriert.