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Januar 2021

Alle calende greche oder: Gibt es eine europäische Geschichte des politischen Terrorismus?

Feeling unwell. “Hai sentito che botto? [1]”, sagt er [2] am Telefon. 7.30 Uhr morgens, und er ist schon überdreht, wie ein Kind. Ich zerdrücke die Zigarette auf dem Badewannenrand. Vögel zwitschern. Das Wasser wird kalt. Er stürmt ins Bad: “WE [3]’RE FINE!” Augenrollen, Kopfschmerzen [4]. “Noi [5] facevamo politica [5]”, hörte ich mich einige Jahre später in einem Interview sagen. Die Kameras [6] schauen zu [7]. Es riecht nach Omelett aus der Küche, ich schaue auf den Dampf, der auf den Spiegel tropft. Es ist ein neuer Tag [8]; sie [9] werden es nicht verstehen [10].

Ich sah die Verzweiflung in ihren Gesichtern [11]. Ich sah wie dieser junge Mann immer höher kletterte. Ich sah wie seine Füße in der Luft gehalten wurden. Ich sah seinen Kopf in einer Schlinge aus seinem Schal. Ich sah wie alle wegsahen [12]. Alle außer [13] die Kameras [14]. Ich hörte nichts [15] mehr, so laut war es. Ich schmeckte den Staub in meinem Rachen, es schmeckte metallisch. Dann konnte ich sie wieder hören [16]. Das Flehen der Männer. Die Wut [17] der Frauen. Die Witze der Polizisten [18].

Mit weitaus weniger Humor nahmen die Beamten [19] es auf, als NRW Innenminister Herbert Reul (CDU) knapp 5000 großformatige Kalender mit Grundgesetz-Artikeln an die Polizeidienststellen [20] im Land verschicken lässt. In dem Kalender werden Artikel wie «Die Würde des Menschen ist unantastbar» (Februar) oder «Alle Menschen sind vor dem Gesetz [21] gleich» (Juni) künstlerisch aufbereitet. Der NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Michael Mertens, zeigte sich verärgert. „Die Kollegen wissen sehr wohl, wie man auf dem Boden des Grundgesetzes [22] seine Arbeit verrichtet, da bedarf es keiner Belehrungen [23] via Kalender“.

Die zeitliche Nähe der beiden Attentate in Bologna [24] und München [25] scheinen aber nicht willkürlich. Das politische Klima und vorherige terroristische Ereignisse [26] in beiden Ländern hätten als Frühwarnzeichen gedeutet und zukünftige Anschläge [27] verhindert werden können. Die jeweils unterschiedliche Reaktion der Zivilbevölkerung und der Behörden [28] der Länder zeigt, wie das Verhältnis zur Aufklärung und Aufarbeitung [29] der beiden Attentate durch die mediale [30] Berichterstattung [31] geprägt wurde.

So ist es kaum verwunderlich, dass das Bild [32] und die Sprache [33] hier nicht nur gesellschaftlich sondern auch politisch Wurzeln schlagen. So tief und weitreichend, dass unsere Vorstellungen über Jahrzehnte [34] hinweg auf dem Fundament der alten Reben [35] konstruiert sind. Erst wenn die Zeit [36] neuen Extremismus und Verbrechen zu Tage bringt, verstehen wir dass der Wein nicht nur alt sondern auch schlecht [37] war. Geschmack ist veränderbar. Das konnten wir ja nicht ahnen. Geschmack ist vor allem erlernt; ein tückisches Distinktion Werkzeug. Geschmack also schmeckt nicht, er unterscheidet; das Werte vom Schlechten.

Werte - Values - Valores - son difìciles de conservar. Que traíción! Verrat an den grundlegenden [38] Menschenrechten. Ich denke, dass der Verlust [39] von gesundem Menschenverstand und ehrlichem [40] Hinschauen [41] erheblich ist. Especialmente en Alemania - seit mehr als 70 Jahren. Hört auf die Menschenstimmen [42]. Escuchales [43].

Quellen

  1. Originale Filmaufnahme (21 Min), Punto Radio Tv Bologna, 2., 3., 4., 6. August 1980, Archivio audiovisivo del movimento operaio e democratico. [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://www.youtube.com/watch?v=0UCqgV9Qb3A
  2. Videoausschnitt (12 Min) aus La Notte Della Repubblica mit Sergio Zavoli, (Sendung am 28.03.1990), Interviews mit Francesca Mambro und Valerio Fioravanti, RAI Radiotelevisione Italiana [video, online]. YouTube. Verfügbar über:https://youtu.be/384n41nETAI
  3. Strafregister von Francesca Mambro und Giuseppe Fioravanti. Verfügbar über: https://stragi.it/curriculacriminali(Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  4. Öffentliche Rede von Renato Zangheri, Oberbürgermeister (PCI - Partito Comunista Italiano) von Bologna beim Staatsbegräbnis der Opfer an der Piazza Maggiore, 6. August 1980, 18 Uhr, Bologna. Verfügbar über:https://stragi.it/zangheri (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  5. Videoausschnitt (11 Min) aus Linea Diretta mit Enzo Biagi (Sendung im 1985), Interview mit Francesca Mambro, RAI Radiotelevisione Italiana [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://youtu.be/LD7DilELnLM
  6. Kellerhof, Sven Felix (2020) „Wie Ameisen krabbelten schreiende Menschen in den Trümmern herum“. Berlin: WELT. Verfügbar über: https://www.welt.de/geschichte/article212639391/Bologna-Attentat-1980-Passagiere-zu-Tode-gequetscht.html#cs-lazy-picture-placeholder-01c4eedaca.png (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  7. Videoausschnitt (5 Min) aus der Sondersendung des Tg1 am 02.08.1980, 12 Uhr, RAI Radiotelevisione Italiana [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://www.youtube.com/watch?v=xXo60nzh0Ig
  8. 2 August 1980 (Hrsg.) (2008) Bedingte Freilassung an F. Mambro, Gründe des Sorveg-Gerichts. Aus Rom. Bologna: Stragi. Verfügbar über: https://stragi.it/liberta-manbro-motivazioni-del-tribunale (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  9. Videoausschnitt (3 Min) von dem Staatsbegräbnis aus La Grande Storia (Sendung im 2016), RAI Radiotelevisione Italiana [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://youtu.be/cuDZnSyOY0E
  10. Stella, Gian Antonio (1994): Loro al governo, noi all’ergastolo. In: Corriere della Sera vom 12.06.1994. Verfügbar über: https://stragi.it/loroalgoverno (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  11. Fotostrecke „Röszke Refugee Field Camp: Fading Hopes“ von Houmer Hedayat Verfügbar über: https://houmer-hedayat.com/fading-hope/
  12. Foto aus dem Artikel „Warnung vor Seehofers Plänen“ von Christian Rath aus der taz, 30. 5. 2019 Verfürgbar über:https://taz.de/picture/3485166/948/23140116.jpeg
  13. Richter, Luisa (2020) Videojournalist auf Lesbos angegriffen: „Menschen haben mir den Tod und Schlimmeres gewünscht“​​​​​​​. Hamburg: Stern. Verfügbar über: https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/lesbos—angriff-auf-videojournalisten—-darum-habe-ich-die-insel-verlassen—muessen—-9171812.html (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  14. Sontag, Susan (2005) Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main: FISCHER Taschenbuch
  15. Leo, Maxim (2016) Tausend weiße Flügel: Ai Weiwei in Idomeni. Berlin: Berliner Zeitung. Verfügbar über:https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/tausend-weisse-fluegel-ai-weiwei-in-idomeni-li.64998 (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  16. Sound Arbeit „In the woods there is a bird…“ von Olaf Nicolai, SWR2 am 12.10.2017. Verfügbar über:https://www.swr.de/swr2/hoerspiel/aexavarticle-swr-72514.html
  17. „I’m Literally a Communist You Idiot“, aus Good Morning Britain, 12.07.2018 [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://www.youtube.com/watch?v=JD7Ol0gz11k
  18. „Die geheimen Dates von Frontex und der Rüstungsindustrie“, von ZDF Magazin Royale, 05.02.2021 [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://www.youtube.com/watch?v=2uk0w8SvUMw
  19. Bruger, Reiner (2020) „Die Leute bekennen sich offen zu braunem Gedankengut“. Düsseldorf: Frankfurter Allgemeine. Verfügbar über: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wieder-razzien-nach-rechtsextremen-chats-bei-nrw-polizei-17068109.html (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  20. Kempen, Aiko; Regis, Julia und Schülke, Mathea (2020) Neue rassistische Polizei-Chatgruppe: Alltag oder Ausnahme?. Köln: MONITOR. Verfügbar über: https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/polizei-chatgruppe-100.html (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  21. Redaktionsnetzwerk Deutschland (Hrsg.) (2021) Lebenslang für Lübcke-Mörder Stephan Ernst – Markus H. von Beihilfe zum Mord freigesprochen. Hannover: Redaktionsnetzwerk Deutschland. Verfügbar über:https://www.rnd.de/politik/lubcke-morder-stephan-ernst-zu-lebenslanger-haft-verurteilt-mitangeklagter-markus-h-von-beihilfe-zum-mord-freigesprochen-OIODVS5LO5DDFHBYZSMAQKX75A.html (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  22. Steinke, Ronen (2021) Hier Auschwitz, da Blondinenwitz. München: Süddeutschen Zeitung. Verfügbar über:https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-polizei-chat-antisemitismus-richter-1.5212686?reduced=true (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  23. Feldmann, Julian und Seidel, Nino (2020) Mordfall Lübcke: Verdächtiger hatte Kontakt zu Waffensammler. Hamburg: Tagesschau. Verfügbar über: https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/mordfall-luebcke-waffen-101.html (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  24. Videoausschnitt (2 Min) aus Blu Notte: La Strage di Bologna (Sendung im 2003), RAI Radiotelevisione Italiana [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://youtu.be/Xo7SGppK_Ec
  25. Günther, Albrecht (2014) Das Oktoberfestattentat. München: Bayerischer Rundfunk. Verfügbar über:https://www.br.de/import/audiovideo/oktoberfest-wiesn-attentat-100.html (Letzter Zugriff: 04.04.2021).
  26. Bühler, Anna (2021) Rechter Terror. #1 Das Oktoberfestattentat und die 1980er Jahre. München: Bayerischer Rundfunk. Verfügbar über: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiofeature/1-das-oktoberfestattentat-und-die-1980er-jahre-podcast-rechter-terror-100.html (Letzter Zugriff: 04.04.2021).
  27. Jansen, Frank; Kleffner, Heike; Radke, Johannes und Staud, Toralf (2020) Interaktive Karte. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Berlin: Tagesspiegel Online. Verfügbar über:https://www.tagesspiegel.de/politik/interaktive-karte-todesopfer-rechter-gewalt-in-deutschland-seit-der-wiedervereinigung/23117414.html (Letzter Zugriff: 04.04.2021).
  28. Kulturreferat der Landeshauptstadt München (Hrsg.) (2020) Ausstellung. München. Verfügbar über:https://dokumentation-oktoberfestattentat.de/de/ausstellung/ (Letzter Zugriff: 04.04.2021).
  29. DGB-Jugend München (2020) Im Kampf gegen das Vergessen (2020) - Kurzdoku zum Oktoberfestattentat von 1980. [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://youtu.be/b3ORYDh9CZ4
  30. Videoausschnitt (5 Min) aus der Sondersendung des Tg1 am 02.08.1980, 12 Uhr [video, online]. YouTube. Verfügbar über: https://www.youtube.com/watch?v=xXo60nzh0Ig
  31. Der Spiegel (Hrsg.) (1989) „Gott sei Dank keine Gesinnungsprüfung“. Hamburg: Der Spiegel. Verfügbar über:https://www.spiegel.de/politik/gott-sei-dank-keine-gesinnungspruefung-a-bf9e08f0-0002-0001-0000-000013495974(Letzter Zugriff: 04.04.2021).
  32. Feldmann, Hans-Peter (1998) Die Toten. 1967-1993. Studentenbewegung, APO, Baader-Meinhof, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen, RAF. Feldmann Verlag.
  33. Wut, 2016. Regie von Elfriede Jelinek. Kammerspiele, Deutschland
  34. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2013) Zeitleiste Rechtsterrorismus. Verfügbar über:https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/167786/zeitleiste-rechtsterrorismus (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  35. Virchow, Fabian (2019) Zur Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsterrorismus: Jg. 69 (49-50) S. 15-19.
  36. Une jeunesse allemande - Eine deutsche Jugend, 2015. [Film, online]. Regie von Jean-Gabriel Périot. Frankreich: Local Films.
  37. Der Spiegel (Hrsg.) (198​​​​​​​0) „Ihnen wäre das Lachen vergangen“ Hamburg: Der Spiegel. Verfügbar über:https://www.spiegel.de/politik/ihnen-waere-das-lachen-vergangen-a-04ae9e11-0002-0001-0000-000014330335 (Letzter Zugriff: 19.04.2021).
  38. Vereinte Nationen (Hrsg.) (2019) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Verfügbar über:https://unric.org/de/allgemeine-erklaerung-menschenrechte/ (Letzter Zugriff: 06.04.2021).
  39. Köbberling Gesa (2018) Bewältigung rassistischer Gewalt. In: Blank, Beate; Gögercin, Süleyman; Sauer, Karin E. und Schramkowski, Barbara (Hrsg.) Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS. S. 409-420.
  40. Simon, Jana (2021) Der Vertrauensmann. In: ZEITMagazin, Nr. 4. vom 21.1.2021. Verfügbar über:https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/04/thomas-muecke-ideologie-rechtsradikalismus-islamismus
  41. Chaussy, Ulrich (2020) Das Oktoberfestattentat und der Doppelmord von Erlangen. Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden. Berlin: Ch. Links Verlag.
  42. Botsch Gideon und Kopke Christian (2015) „Wer sind die Opfer – und wie werden sie dazu gemacht?“. Verfügbar über: https://m.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/213886/wer-sind-die-opfer (Letzter Zugriff: 06.04.2021).
  43. NSU Watch (Hrsg.) (2014) “Kein 10. Opfer!” – Kurzfilm über die Schweigemärsche in Kassel und Dortmund im Mai/Juni 2006. [video. online]. Verfügbar unter: https://www.nsu-watch.info/2014/01/kein-10-opfer-kurzfilm-ueber-die-schweigemaersche-in-kassel-und-dortmund-im-maijuni-2006/ (Letzter Zugriff: 06.04.2021).

Anmerkung

Der italienische Ausdruck alle calende greche - abgeleitet vom lateinischen ad Kalendas Graecas - hat die metaphorische Bedeutung von „niemals“. Die Bedeutung von „nie“ ergibt sich aus der Tatsache, dass die Kalenden nur im römischen Kalender existierten, in dem sie dem 1. Tag eines jeden Monats entsprachen, nicht aber im griechischen Kalender: eine Zählung bis zu den griechischen Kalenden zu verlängern bedeutete, sie auf ein nicht existierendes Fälligkeitsdatum zurückzubringen.

Jakob Braito, Jonas Höschl, Martin Huber, Verena Moser, Uli Mühle, Luciano Pecoits und Giulia Zabarella unternahmen im Workshop „1980: Das Oktoberfestattentat und der Anschlag von Bologna. Praktiken im Umgang mit archivarischem Tonmaterial“ eine zeitliche Untersuchung von Zusammenhängen, Abläufen und politischem Klima rund um die Attentate von Bologna und München im Jahr 1980.

Thanks to: Zeynep Bozbay

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