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MK:

„Lieber gemeinsam unglücklich als allein“

Mit Jette Steckel kommt eine neue Regisseurin an die Münchner Kammerspiele und bringt mit einem großen Ensemble um Wiebke Puls, Katharina Bach und Joachim Meyerhoff Tschechows ausuferndes Erstlingswerk „Die Vaterlosen“ auf die Bühne.

MK: Jette, wie blickst du vor deiner ersten Arbeit in München auf die Stadt, wie auf die Kammerspiele?

Jette Steckel: Für mich ist es quasi eine Eroberung des Südens, ich habe bisher keine Ahnung von München, habe überhaupt noch nie in Süddeutschland inszeniert. Die Gespräche mit den Kammerspielen sind inzwischen mehr als drei Jahre alt – zwei Arbeiten konnten nicht stattfinden. Umso mehr freue ich mich, dass es nun dazu kommt, an den „sagenumwobenen“ Kammerspielen zu arbeiten, deren Echo ja sicher auch dich lockt, Joachim. Mehr ist es bisher aber nicht, das mich mit München verbindet.

Joachim Meyerhoff: Für mich sind die Kammerspiele ein richtiger Sehnsuchtsort, der durch die Schauspielschule aber auch mit vielen Verunsicherungen verbunden war. Es war die erste Bühne, auf der ich je gestanden habe, als Statist in der „Faust“-Inszenierung von Dieter Dorn. Diese Dorn-Ära war wirklich ein sehr integres, inhaltliches Theater. Das hat mich gleichermaßen tief beeindruckt und auch aufgefordert, nach anderem zu suchen. Außerdem hat meine Großmutter an den Kammerspielen gespielt, insofern gibt es auch da biographische Bezüge: eine richtig enge Beziehung, ohne dass ich je da gespielt hätte.

MK: Kurioserweise probst du in dieser Spielzeit gleich zweimal Tschechow. Was ist dein Verhältnis zu diesem Autor?

JM: Die Erzählungen von Tschechow sind mir früher begegnet als die Stücke, die haben mich eigentlich mein ganzes Leben begleitet. Tschechow ist ein Schriftsteller, der einen in jedem Lebensjahrzehnt jeweils anders und neu anspricht. Und jetzt, wo ich in dieser Spielzeit nacheinander in Berlin „Die Möwe“ und an den Kammerspielen „Die Vaterlosen“ proben werde, habe ich wieder angefangen, die Erzählungen zu lesen. Das ist ja ein Fass ohne Boden, man gerät so hinein in diese Tschechow-Welt. Die Beschäftigung mit russischer Literatur ist für mich gerade im Moment auch eine Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart. Tschechows Theaterstücke sind mir dann etwas später erst begegnet, haben sich in der Schauspielschule durch die ikonischen Theaterbilder etwa der großen Peter-Stein-Inszenierungen eingraviert – davon stößt man sich dann aber natürlich auch ab.

„Tschechow scheint unvorstellbar universell zu wissen, wie es Menschen in jedem Alter geht.“

MK: Man findet immer wieder individuell unterschiedliche Anknüpfungspunkte, Widerhaken in den Figuren.

JM: Tschechow scheint unvorstellbar universell zu wissen, wie es Menschen in jedem Alter geht. Ich kenne keinen anderen Autor, der gleichzeitig so genau zu wissen scheint, wie es einem 17-Jährigen geht und einem 40-, 50-, 60-Jährigen. Und das, obwohl er beim Schreiben der „Vaterlosen“ selbst noch so jung war. Ein Trigorin in seiner etwas in die Jahre gekommenen, welken Männlichkeit. Natürlich hat mich auch Kostja manchmal sehr beschäftigt – wer sich da als Schauspieler nicht angesprochen fühlt, der würde mich wundern. Zwischen 30 und 40 entwickelte ich eher eine Freude an den proletarischen Figuren, wie etwa Ossip aus den „Vaterlosen“. Der Autor begleitet einen so durch die Zeit.

MK: Jette, ist dies deine erste Begegnung mit Tschechow?

JS: Ich habe bisher nur im Studium Tschechow gemacht, das war aber eine wichtige Arbeit. Das war die Arbeit, die ich gemacht habe, als ich aufhören wollte, Regie zu studieren. Ich hatte das Gefühl, in diesem Studium nur eine Marionette zu sein und nur Dinge zu machen, die mit meiner Faszination für das Theater nichts zu tun hatten. Und nun hatte ich also beschlossen, nach Moskau zu gehen, wollte aber vorher noch ein letztes Projekt abschließen. Die Aufgabe war Tschechow, aber in 60 Minuten. Also fragte ich mich, welches Stück man in so einer „Reader’s Digest“-Version machen könnte. Ich hatte mich wahnsinnig viel mit allen Stücken beschäftigt und kam zum Ergebnis: keins. Ich fand das alles unmöglich und habe eine Arbeit gemacht, die hieß: „Das Leben ist das Leben, wie eine Mohrrübe eine Mohrrübe ist“. Das war eine Tschechow-Compilation, und wir haben immer nur die Fragen zum Lebenssinn aus den Quellen herausgezogen und die Figuren darüber diskutieren lassen. Das hatte zur Folge, dass ich hinterher sechs Aufträge hatte, an Theatern arbeiten zu dürfen. Unmittelbar danach ging ich nach Moskau und kam wieder mit dem Entschluss, weitermachen zu wollen. Das war ein innerer Durchbruch für mich, das war gut. Leider habe ich danach nie wieder Tschechow machen dürfen. Jetzt kommt es endlich dazu!

„Dieser fast an die Schmerzgrenze gesteigerte Individualismus der Figuren“

MK: Joachim, du hast vorhin davon gesprochen, dass Tschechow auch mit einer Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart zu tun habe. Wie würdest du das genau beschreiben?

JM: Dieser fast an die Schmerzgrenze gesteigerte Individualismus der Figuren, die aber alle um ihr Leben kämpfen und ringen und auch um die gute alte Liebe, dieser schmale Grat zwischen völliger Verzagtheit, Weltekel und Nihilismus – das finde ich alles, ich möchte nicht sagen, spezifisch für unsere Zeit, aber schon sehr zeitlos. Es gibt eben immer ältere Männer, die junge Frauen wollen und dann ihre Ehefrauen davon überzeugen wollen, dass das für alle gut ist.

JS: Ich glaube, es geht um den Reichtum in den Psychologien der Figuren, dass die einem über alle Zeiten lebendig erschienen sind. Natürlich beschäftigt mich die Frage, ob man das mit unserer politischen Gegenwart kurzschließen und die Folie der Jetztzeit darüberlegen muss. Aber ich habe das Gefühl, dass das zu einer Dezimierung des Figuren-Reichtums führen und sie wahrscheinlich beengen würde in all ihrer Widersprüchlichkeit. Bei Platonow ist natürlich die Frage: Was ist das, womit die Figur so kämpft, woran sie so krankt? Was ist das für eine Abstoßung von der Generation der Väter oder einer Elterngeneration?

MK: Da sind wir bei der Frage des Titels. Warum hast du dich entschieden, den Titel „Die Vaterlosen“ zu wählen?

JS: Das Tolle bei Tschechow und besonders bei diesem Stück ist die Tatsache, dass es in der ganzen Breite des Ensembles nicht nachlässt mit der Genauigkeit und Ausführlichkeit, in der Figuren ausgeleuchtet und erzählt sind. Wir haben es mit einem maßlosen Fragment zu tun, was viel Stoff für viele Figuren beinhaltet. Der Titel drängt uns die Frage nach der Elterngeneration auf: Wofür haben die gestanden und wovon möchte man sich absetzen?

JM: Interessant ist auch, sich zu vergegenwärtigen, dass Tschechow, als er das geschrieben hat, mit 17 oder 18, wirklich vaterlos war. Die Familie war weggegangen, und er blieb allein zurück, schrieb Humoresken und hat die Familie miternährt. Ein Junge, der sich allein durchgeschlagen hat, völlig entwurzelt, schreibt dann so ein Stück. Das ist schon erstaunlich.

„Wie positioniert man sich gegenüber den Ideen, für die die Elterngeneration gestanden hat?“

JS: Wenn ich mich aber als Publikum nicht mit Tschechows Biographie beschäftige, sondern nur den Titel höre, dann legt sich da schon eine Folie drüber: Unsere Vätergeneration und da vergangene Jahrhundert, die Konflikte, die politischen Versuche und das Scheitern, von dem wir uns durch sie erzählen lassen können. Wie positioniert man sich gegenüber den Ideen, für die die Elterngeneration gestanden hat? Was setzt man für Gegenentwürfe dagegen? Das schwingt in dem Titel für mich mit. Titelreiz und Titellast.

JM: Es steckt ja auch in dem Stück. Tschechow hat in einer Zeitenwende gelebt und geschrieben. Ich finde, alle diese Figuren sind so aufgeladen mit Dingen aus einer Zeit, die nicht mehr zu funktionieren scheint. In jeder Figur steckt ein Bruch – man ist geprägt durch bestimmte Dinge, je nach Generation, je nach Herkunft, und alle diese Dinge greifen aber nicht mehr. Dass etwas grundsätzlich Anderes zu passieren hat, in Beziehungen zueinander, in der Art, wie man sich mit der Welt verbindet, als müsste man alles wie eine Revolution wegfegen. Das steckt in den „Vaterlosen“ von allen Stücken am stärksten. Bei aller großen Liebe zu den Figuren ist es doch ein gnadenloses Stück gegenüber diesen Menschen.

JS: Da ist schon eine gefühlte Zeitgenossenschaft zu dem Moment, in dem wir – jedenfalls meiner Empfindung nach – momentan sind. Ich finde es gerade sehr gut, dass es so eine fundamentale Infragestellung auf allen Ebenen gibt. Das sind schon Figuren, mit denen man jetzt ziemlich viel anfangen kann.

JM: Dabei hat es für mich auch fast einen utopischen Gedanken, dass man sich wenigstens gemeinsam zerfleischt und nicht in der völligen Vereinsamung landet. Wir haben so viel Isolation erlebt. Da hat das schon eine Schönheit, dass diese Leute im Stück sich in einer großen Gruppe auseinandersetzen. Irgendwie ist es schöner, gemeinsam unglücklich zu sein, als allein.

JS: Das ist ja auch ein Faktor des Glücks, das man im Theater erleben kann.

JM: Gemeinsam unglücklich.

JS: Wenigstens gibt es noch einen Rest von Interesse aneinander.

MK: Danke euch für das Gespräch, wir freuen uns auf die Arbeit.