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Programmheft "Die dritte Generation"

Foto: Emma Szabó

I could lie, say I like it like that, like it like that

1968 gastiert Fassbinders etwa zwölfköpfiges antiteater mit seiner Farce „Anarchie in Bayern“ im Werkraum der Kammerspiele. Eine Gruppe von Mitte Zwanzigjährigen tanzt, spielt, schreit und kämpft sich an einen politischen und gesellschaftlichen Systemwechsel heran: Wie wird es endlich anders? Wie sich der Zerstörung von Welt und Selbst im Kapitalismus entziehen? Wie die gesellschaftlich eingeübte Gewalt loswerden? Geht das überhaupt?

Zehn Jahre später in seinem Film „Die dritte Generation“, der in schnellen Drehs im Winter 1978/79 in Berlin entsteht, untersucht er das Weitergären der alten Ordnung trotz eines – nun für viele jäh schal gewordenen – Versuchs einer Änderung. Was ist von den linken Ideen nach der Implosion der RAF im Herbst 1977 geblieben? Ein Jahr nach der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“, der Ermordung des entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer, den mutmaßlichen Selbstmorden von Baader, Ensslin und Raspe in der JVA Stuttgart-Stammheim? Wo sitzt sie noch fest: die Gewalt der beiden Weltkriege, die des nationalsozialistischen Regimes? Wo bricht sie sich Bahn? – Bei Fassbinder nicht zuletzt in den Beziehungsweisen, im Zwischenmenschlichen, in den verkorksten Leben. Es sind die Mikro-Ebenen der Machtverhältnisse, die er in den Blick nimmt. Und erneut, immer wieder, das Interesse an der Gruppe:

dass ich gar nicht genug beweisen kann, dass Gruppen nicht funktionieren, um immer wieder sagen zu müssen, sie wären das Maximalste an möglichem Zusammenleben.

Rainer Werner Fassbinder, 1978¹

Die rebellierenden Bürgerkinder der „dritten Generation“ stecken in Ambivalenzen fest: Unbeteiligt laufen sie durch ihr Leben, das unerträglich geworden ist. Sie finden kaum Auswege aus der Reproduktion der alten Gewaltmuster und scheinen sie mitunter gar nicht mehr zu suchen. Ihre Medienrezeption ist endlos, dauernd läuft der Fernseher, die Nachrichten rauschen nur noch an ihnen vorbei. Die terroristischen Aktionen entstehen sinnentleert aus dieser Ohnmacht. Dieses Gefühl einer allgemeinen Depression angesichts des gesellschaftlichen Zustands untermalt Fassbinder mit Zitaten des pessimistischen Philosophen Schopenhauer („Die Welt als Wille und Vorstellung“) und losen Verweisen auf suizidale Gedanken: auf die Selbstmorde des jungen Umweltaktivisten in Robert Bressons Film „Le diable propablement“ (1976) und der Dichterin Danielle Sarréra, deren erotische Skandalpoesie 1977 auf Deutsch erschien. Dagegen stellt Fassbinder ausführliche Zitate aus Michail Bakunins Schriften, dessen anarchistische Texte als Raubkopien in den Kneipen der 70er zirkulierten. Bernhard von Stein – einer, der nicht zur Terror-Zelle gehört, nicht dazugehören möchte – liest daraus immer wieder vor.

Aber wenn du anarchistische Vorstellungen über andere Lebensformen hast, warum sind dann die Anarchisten in deinen Filmen, also teilweise Franz Biberkopf und Bernhard von Stein in der DRITTEN GENERATION, so vollkommen kaputte Menschen?

 

Das sind sie ja auch nicht unbedingt. Es gibt Teile von ihnen, die kaputt sind, aber so muss das sein, wenn das anarchische Element mit der Erziehung kollidiert, die sind da kaputt, wo der Zusammenprall stattfand.

Fassbinder im Interview mit Christian Braad Thomsen, 1979²

Wie wird endlich alles anders? Erneut tanzt, spielt, schreit und kämpft sich eine Gruppe von Mitte Zwanzigjährigen an einen politischen und gesellschaftlichen Systemwechsel heran: Wir versuchen Nähe und Entfernung zum Winter 78/79 und zu Fassbinders Blick auf die Gesellschaft der BRD zu vermessen. Das Wanken zwischen Depression und Rebellion angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse scheint uns nah. Bereits 1972 wurden im Bericht des Club of Rome die „Grenzen des Wachstums“ benannt, und damit jene Verbindung zwischen Kapitalismuskritik und Umweltschutz, die uns heute wieder beschäftigt und beschäftigen muss. Die Gewalt in den privaten Beziehungen, die Fassbinder in seinen Filmen zeigt, ist noch da, anders, verschoben. Wie geht sie uns noch etwas an? Wie geht eine junge Bewegung heute mit dem Widerspruch um, nicht außerhalb des Systems zu stehen, das zur Zerstörung beiträgt? Wie mit Macht und Machtlosigkeit? Wie werden sich die neuen politischen Bewegungen entwickeln, werden sie sich radikalisieren? Die systemische Zerstörung von Welt und Selbst – wie kämpfen wir heute gegen sie an?

Wenn die harmonische Einrichtung der neuen Welt auch Neue Menschen erfordert – frei von Habsucht und Neid, kooperativ und rücksichtsvoll, sanftmütig und altruistisch –, was passiert dann eigentlich mit den alten Menschen? Tatsächlich haben verschiedene Theoretikerinnen – Marx ähnlich wie Bakunin oder Lenin – den Schluss gezogen, dass die erste Generation der Revolutionärinnen zwar die alten Verhältnisse stürzen, nicht aber die neuen aufbauen kann. Erst die nächste, schon nach der Revolution geborene Generation wird die Arbeit vollenden und den Kommunismus erreichen. Die Revolutionärinnen mit Kapitalismushintergrund hingegen müssen vor den Außengrenzen der neuen Welt stranden, ohne je wirklich Zutritt zu erhalten. Diese Konzeption der Zukunft wirkt seltsam bekannt. Eine weitere kritische Frage, die sich die Utopie stellen lassen muss, lautet deshalb, ob sie eine ideale Welt für ideale Menschen schaffen will oder eine, die auch den versehrten und verkorksten Menschen (also uns) ein Zuhause bietet.

Bini Adamczak, 2020³

Die Inszenierung von Charlotte Sprenger sucht die Zerbrechlichkeit im Zwischenmenschlichen und die Stärke im offenen Spiel mit Ambivalenzen. Um uns herum: der Sound von Billie Eilish, der selbstbewussten Stimme einer jungen Generation zwischen Konsumkritik, Selbstbestimmung und Eigenvermarktung, zwischen stylischer Antihaltung und Gucci, zwischen Depression und Rebellion. Schwarze Tränen fließen in ihrem Videoclip zu samtener Stimme: I could lie, say I like it like that, like it like that.

Olivia Ebert

Eine Inspiration für Inszenierung und Bühnenbild: „When the party is over” von Billie Eilish

Was haben die 70er mit heute zu tun? Der Historiker Philipp Sarasin hat kürzlich die These aufgestellt, unsere Gegenwart habe 1977 begonnen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung • 24.6.21

„Es lohnt sich, beide Bewegungen zu vergleichen. Die Fridays, die 19er, und die 68er. Letzteres ist längst eine Chiffre für alle, die seit den 1960er Jahren weltweit um liberalere Gesellschaften gerungen haben. Die Fridays werden vielleicht zur Chiffre für alle, die eine ökologische Gesellschaft erringen wollen.“, schreibt der Journalist Ingo Arzt in der taz.

Bini Adamczak: Vom Widerstand zur Utopie

Das Nachdenken der Autorin Bini Adamczak über die Kraft und das (historische) Scheitern von Utopien und Revolutionen inspirierte unsere Gespräche, genauso wie ihr Fokus auf die Beziehungsweisen als Kern einer notwendigen Veränderung. (Hierzu siehe auch ihr Buch: Beziehungsweise Revolution, 1917, 1968 und kommende, 2017 im Suhrkamp Verlag erschienen).

analyse & kritik Zeitung für linke Debatte & Praxis • 20.10.20

Sehen Sie hier den Original-Trailer zum Fassbinder-Film „Die dritte Generation“

Rainer Werner Fassbinder Foundation

Eine Komödie in 6 Teilen
um Gesellschaftsspiele voll Spannung,
Erregung und Logik, Grausamkeit und Wahnsinn,
ähnlich dem Märchen, die man Kindern erzählt,
ihr Leben zum Tod ertragen zu helfen

Textnachweise

¹ Rainer Werner Fassbinder 1978 im Interview mit Peter W. Jansen, in: Robert Fischer (Hg.): Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 2004, S. 437.
² Rainer Werner Fassbinder 1980 im Interview mit Christian Braad Thomsen, in: ebd., S. 489.

³ Bini Adamczak: Vom Widerstand zur Utopie, https://www.akweb.de/bewegung/bini-adamczak-vom-widerstand-zur-utopie/, abgerufen am 09.01.2022.